Rotraud A. Perner
27-06-2012
Selbst und Selbstverwirklichung in der psychotherapeutischen Arbeit
am Beispiel Freud – Rogers – Jung – Fromm – Berne – Perner
in der praktischen Arbeit
1. Vorbemerkung
Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Erfahrung, dass zwischen der kognitiven Aufnahme der Fachliteratur von PsychotherapeutInnen und dem, was dann in der psychotherapeutischen Arbeit mit Einzelnen und Gruppen erlebbar wird, ziemliche große Differenzen bestehen.
Ein klassisches Beispiel dafür bietet der so genannte Penisneid, der von NichtpsychotherapeutInnen vielfach als Hirngespinst[1] des Patriarchen Freud abgetan wird, der kein Sensorium für die soziale Benachteiligung von Frauen besaß. In der praktischen Arbeit zeigt sich das so benannte Phänomen als zwanghaftes Streben nach Wachstum – nicht nach Anerkennung, nicht nach Selbstentfaltung, sondern als ungeduldiges, quälendes, diffuses Gefühl, es müsste noch etwas aus einem – hier: einer – herauskommen, und dann wäre man endlich von dem Druck befreit. Gelingt eine Therapie, so verwandelt sich diese Anspannung in heiter-entspanntes Genießen der eigenbestimmten Weiterentwicklung – ohne Zeitdruck, ohne Konkurrenzbedürfnisse, der jeweiligen körperlichen wie seelisch-geistigen Befindlichkeit entsprechend.
Ich selbst bin nach Freud ausgebildet (Zusatzbezeichnung in der Lizenz), Rogers (personzentrierter Ansatz), Gendlin (Focusing), Bandler & Grinder (NLP), in systemischer Paar- und Sexualtherapie und nicht abgeschlossen nach C. G. Jung sowie fortgebildet in Hypnotherapie nach Milton Erickson, Transaktionsanalyse und verschiedenen körperpsychotherapeutischen Methoden. Außerdem verfüge ich zusätzlich zu den Ausbildungssupervisionen und meiner eigenen psychoanalytisch-sozialtherapeutischen Lehrsupervision über jahrelange Supervisionsbegleitung nach der Methode der Individualpsychologie (Alfred Adler).
Neben meiner praktischen Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Supervisorin und strategischer Coach war ich auch 10 Jahre Mitglied des Psychotherapiebeirats im Gesundheitsministerium (der die Lizenzen befürwortet) und darin auch in der Ethikkommission (die die Beschwerden bearbeitet) und gleichzeitig Gerichtssachverständige für Kunstfehler in der Psychotherapie.
Ich möchte mit dieser kurzen Abhandlung zeigen, welche Bausteine in der Arbeit der mir vertrauten psychotherapeutischen Methoden ethische Vervollkommnung erzielt werden kann (und sollte – auch wenn diese Formulierung bereits einen Eingriff in die Selbstbestimmung darstellt).
2. Freud: Wo Es war soll Ich werden
Im Mittelpunkt der Arbeit nach Freud steht ausgehend vom topischen Modell von Es – Ich – Über-Ich das innerseelische Konfliktgeschehen; die Methode der freien Assoziation in der macht-losen liegenden Körperhaltung ohne Blickkontakt (wie ein Säugling in der Wiege) soll eine tiefgehende Regression die Freisetzung unterdrückter Impulse fördern und die unreflektierte Introjektion von Über-Ich-Geboten und -verboten durch reflektierte Realitätssicht und verantwortliche Selbstbestimmung ersetzen.
Das Misslingen einer psychoanalytischen Therapie erkennt man daran, dass sich die AnalysandInnen mit der vermeintlich allwissenden Elternersatzfigur hinter der Couch identifizieren und sich in übernommener Fachsprache als Besserwisser über andere überheben – eine klassische Kompensation von noch nicht entwickelten Potenzialen du damit ein Hindernis für Weiterentwicklung.
Eine gelungene psychoanalytische Therapie bringt meist tiefere Selbsterkenntnis, größere Frustrationstoleranz, mehr Respekt für andere – was nicht „höfliche“ Unterwerfung unter Status sichernde Sozialnormen bedeutet sondern eher, dass man ihnen zutraut, mit Oppositionen wertschätzend umgehen zu können – und Freisetzung bisher unterdrückter Begabungen, darunter auch die soziale Begabung, vor jeglicher Aktivität nachzudenken.
3. Rogers: Akzeptanz – Empathie – Kongruenz
Carl R. Rogers, der ursprünglich Theologie studiert hatte, entdeckte als freudianisch praktizierender Psychologe, dass nicht dessen orthodoxe „Widerstandsarbeit“, d. h. eher schroffe Konfrontation der KlientInnen mit ihren abgewehrten Seelenanteilen, Entwicklung fördert, sondern nicht kommentierendes, mitfühlendes Verstehen dessen, was die KlientInnen – im wahrsten Sinn des Wortes – aus-drücken wollen. Von Rogers stammt die Metapher von der Kartoffel, die auch im tiefsten und dunkelsten Keller dem Licht entgegen wächst; er nannte diesen Impuls die „selbstaktualisierende Tendenz“.
In Österreich gibt es derzeit drei psychotherapeutische Schulen nach Rogers: die „klientenzentrierte“ ÖGWG (Österr. Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächsführung) und die beiden „personzentrierten“ APG (Arbeitsgemeinschaft personzentrierte Gesprächsführung) und das von der APG abgespaltene Forum (mit denen ich mitgegangen bin).
Während in der „klientenzentrierten“ Arbeit die VEE (Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte) praktiziert wird (d. h. versucht wird, mit eigenen Worten das Erleben der KlientInnen zurückzuspiegeln), kann in der „personzentrierten“ Arbeit sogar auf Worte verzichtet werden, weil sich die Gedankenkraft (d. h. die Neurotransmitterausschüttungen) auch über das bioelektrische Kraftfeld (messbar über den elektrischen Hautwiderstand, worauf auch Bio-Feedback-Methoden beruhen) mitteilt.
Akzeptanz, worunter das bedingungslose (!) Annehmen des anderen Menschen als Person – nicht ihres Verhaltens! und daher auch nicht ihres Status oder ihrer Macht – zu verstehen ist, entspricht der bedingungslosen Annahme durch Gott. Dies zu erleben, hat meist schon so heilsame Wirkung, dass damit Selbstakzeptanz, Selbstliebe und verschüttete Entwicklungsimpulse frei gesetzt und fortgeführt werden.
Empathie bedeutet nicht das alltägliche Mitgefühl und schon gar nicht Mitleid, sondern ist ein so inniges Einfühlen in den anderen, dass man die Gefühle und oft sogar Körperempfindungen der anderen Person wirklich im eigenen Leib spürt. Seit der Entdeckung der so genannten Spiegelneuronen durch die computergestützte Gehirnforschung in den 1990er Jahren ist dieser Mechanismus auch naturwissenschaftlich nachweisbar. In einigen psychotherapeutischen Schulen gehört er zur „Technik“ (in der griechischen Urbedeutung als Kunst zu verstehen) und soll unbewusst aus der Spiegelung durch den Lehrtherapeuten ins Verhalten integriert werden (im Gegensatz zum NLP, in dem strukturiert nachgeahmt wird – was aber auch zu dem gleichen Effekt führen kann, allerdings nicht beabsichtigt ist).
Kongruenz oder in der medial verkürzten Populärformulierung Authentizität bedeutet, dass die TherapeutInnen absolut wahr sein müssen: ihre Gesinnung soll und muss auch äußerlich „stimmig“ erkennbar sein. Ich formuliere immer: Das, was Menschen krank macht, ist die Lüge – auch das Selbstbelügen – und was heilt, ist die Wiederherstellung von Wahrheit. Es ist die schwierigste Seelenreinigungsaufgabe für die TherapeutInnen, hoch ethisch, der Gewissensprüfung vergleichbar, nur dass sie in der therapeutischen Arbeit jeden Augenblick automatisch, d. h. auch unbewusst, mitlaufen sollte.
Bedingungslose akzeptierende, empathische und kongruente TherapeutInnen setzen durch ihr die Person wertschätzendes und damit zur Selbstkorrekturen anregendes Feedback die selbstaktualisierenden Tendenzen in Gang. Die Tragik besteht allerdings darin, dass manche ihre Begabung bzw. Kunst missbräuchlich zur – durchaus wohlmeinenden – Manipulation der KlientInnen einsetzen und diesen damit das Hineinwachsen in echte Selbstbestimmung verwehren; und es sind genau die bereits von klein auf manipulierten KlientInnen, die dies oft viel zu spät oder gar nicht merken und damit in ihrer Verletztheit gefangen bleiben.
4. Jung: Der Schatten als Symbol unintegrierter Seelenanteile
In einer tiefenpsychologischen Therapie nach C. G. Jung ist wohl das Wesentlichste die so genannte Schattenintegration. Dieser „Schatten“ kann in vielfältiger Gestalt auftauchen, etwa in Träumen oder in „Komplexen“, also verdichteten Gedanken-Gefühls- und Symptomverknüpfungen, die bestimmte Verhaltensweisen forcieren bzw. unmöglich machen.
Der Schatten beinhaltet alles das, was dem Wachbewusstsein unlieb ist – Verbotenes, Abgelehntes, Unangenehmes, Schwieriges und meist auch das Urbild des Gegengeschlechts (Animus bei der Frau und Anima beim Mann). Die Verschiebung in den Schatten geschieht körperlich durch Atemanhalten und Muskelkontraktionen, psychisch durch Seelenstarre und mental durch Denkausfälle (oft fallen auch Funktionen der Sinnesorgane aus). Damit sind bereits drei der vier Grundfunktionen der Wahrnehmung bzw. des Bewusstseins beschrieben: das vertikal gedachte Gegensatzpaar Denken und Fühlen (da schleicht sich noch etwas Freud ein!) sowie das andere, horizontal dargstellte, Körperlich Empfinden und Intuieren. Am Kreuzungsmittelpunkt dieser „Quadrinität“ findet sich das Selbst, umgeben von dem demonstrativen Ego (indem man sich der zu verbergenden unerwünschten Seelenanteile meist bewusst, zumindest vorbewusst ist), und dieses wieder wird von der Maske oder Persona umrahmt. Es liegen also quasi zwei konzentrische Kreise als Schutzwalle um das Tiefenselbst, in dem sich alle Gegensätze aufheben, daher auch Denken und Fühlen, Empfinden und Intuieren zusammen fallen.
Dieser Schatten bedeutet aber nicht die „dunkle“ Seite; da tauchen bei Laien meist Assoziationen mit Wahnhaftem und Kriminellem auf. Ein Wahnhafter hat aber die Realitätssicht im Schatten und ein Krimineller seine Sehnsucht nach Redlichkeit, und ein Gewalttäter hat seine Zärtlichkeit.
Im Tiefenselbst tauchen immer wieder die gleichen „Urbilder der Seele“ auf, die sich auch in Mythen und Märchen wieder finden und ebenso in der Kunst; Jung nannte sie Archetypen. Der Fehler, der leider oft – siehe die Vorbemerkung – gemacht wird, besteht darin, zu glauben, er hätte ein „bildstarkes Konzept zur Deutung“ der menschlichen Sexualität oder Seele oder Verhaltenspalette „erfunden“. Im Gegensatz zu Philosophen, die durch reines Denken zu Erkenntnissen gelangen wollen, schöpfen PsychotherapeutInnen immer aus der Erfahrung der Arbeit mit konkreten Menschen; sie „erfinden“ nicht – sie finden Analogien und suchen nach Worten, diese ihre Praxiserfahrung weiter zu vermitteln. Oft sind diese Worte missverständlich …
Auch sei hier kritisch angemerkt, dass die „Persona“ nicht das menschliche Selbstbild im Sinne etwa von Freud oder Rogers meint, sondern das, was man anderen bewusst präsentiert – wahr muss es nicht sein. Es entspricht nur teilweise dem Freud’schen Über-Ich bzw. kann man für heutige Verhältnisse sagen: das Es hat sich ins Über-Ich eingeschlichen! – oder den „Kopfbewohnern“ in der Transaktionsanalyse, insofern es eine bestimmte Wirkung bei anderen Menschen nach „gängigen Moralvorstellungen“ – ich betone ergänzend: der jeweiligen Bezugsgruppe! – erzielen will.
Wenn wir in einer jungianisch angelegten Psychotherapie beispielsweise dafür, was Freud Penisneid nennt, den Begriff Animus-Besessenheit verwenden, wird damit der fehlgeschlagene Versuch, die männlichen Seelenanteile auszuleben, gemeint. Im Rahmen einer therapeutischen Intervention kann und darf das als eine Zwischenphase der Individuation wohl sein – aber nie der Endpunkt (wie es etwa bei vielen Feministinnen der Fall ist, die den „männlichen Protest“ (Alfred Adler) als ihre Selbstverwirklichung ansehen). Das Ziel ist immer die Balance, der Ausgleich, der Gleichmut. Dann verliert man auch keine Energie in Abwehrhaltungen, und: man braucht deshalb auch andere Menschen nicht mehr zu manipulieren.
Mein jungianischer Lehranalytiker sagte immer: je mehr jemand seelisch gesundet, desto mittel-mäßiger wird er bzw. sie. Mittelmaß darf aber nicht mit der Qualität von Leistungen missverstanden werden, sondern als leib-seelisch-geistiges Balancevermögen.
5. Fromm: Abschied von der Destruktivität
Wo ich mich in meiner psychotherapeutischen Arbeit vom „Freudomarxisten“ Fromm stark inspirieren lasse, ist seine Sichtweise von den kulturell hervorgerufenen nekrophilen gegenüber biophilen Strebungen im Individuum wie auch in der Gesellschaft. Im Gegensatz zu Alfred Adler, der dem Machtstreben als individuellem Kompensationsversuch von Minderwertigkeitsgefühlen besonderes Augenmerk widmete, sieht Fromm die gesellschaftliche Verursachung von menschlicher Destruktivität.
Gerade die derzeitigen Reaktionen auf das Wort „Ungehorsam“ in den r.-k. Leitungsgremien zeigen, wie sehr Menschen in der Anhaftung an unkritisch übernommene „Glaubenssätze“ – ein Fachausdruck aus der Systemischen Therapie, der besagt, dass man solch eine Anweisung nicht hinterfragen darf – diejenigen, die selbst denken und nicht „denken lassen“ als Bedrohung ihrer Selbstsicherheit empfinden. So scheiden sich die Geister in diejenigen, die an der konventionellen Moral festhalten gegenüber denjenigen, die im Sinne der postkonventionalen Ethik allein ihrem Gewissen entsprechend handeln wollen, was vielleicht noch tolerabel wäre, aber sogar wagen, andere zur „Gewissensanwendung“ zu „verführen“.
In der konkreten psychotherapeutischen Arbeit stellt sich in diesem Sinne ein Dilemma ein: da fast alle psychotherapeutischen Schulen auf Empowerment, d. h. reflektierte verantwortungsbereite Selbstermächtigung zielen, kann diese meistens auch spürbare Einstellung der jeweiligen Therapeuten von einer autoritätshörigen Person als gewalttätig empfunden werden. Andererseits gehört zur Individuation die kognitive wie auch emotionale Ablösung von prägenden Autoritätspersonen, was nicht bedeutet, dass man aus der so erlangten Unabhängigkeit nicht das, was man nach ausgiebiger Prüfung daraus für unterstützenswert hält, bei sich selbst fördern dürfte.
Ich habe in Kommunikation mit r.-k. Priestern erlebt, wie manche schon den Versuch, eine eigene Sicht einzubringen und dafür Respekt zu fordern, als gewalttätig ihnen gegenüber interpretierten – Zitat: „Ich mag es nicht, wenn es ,schief’ wird“ – im Klartext: derjenige empfand es als schief, wenn man seinen Dominanzanspruch in Richtung Gleichwertigkeit korrigieren wollte.
Destruktivität findet dort statt, wo andere in ihrer Selbstachtung verkleinert, „abgebaut“ werden sollen statt psychisch aufgebaut. Da jedes Verhalten „erlernt“, d. h. von Vorbildern abgeschaut und nachgeahmt und damit neuronal verschaltet ist, kann destruktives Verhalten als Dominanzstrategie zur Verfestigung von sozialen wie auch juristischen Hierarchien offen gelegt werden. Es gibt noch andere, ethischere Formen, zu Dominanzpositionen zu gelangen – beispielsweise klar seine Ziele zu kommunizieren und „Wahlwerbung“ zu betreiben. Damit müsste man sich aber in die Position des Bittenden begeben …
6. TA : nicht bei „schiefen“ Beziehungen mit-spielen
In der von dem ebenfalls ursprünglich freudianischen Psychoanalytiker Eric Berne begründeten Transaktionsanalyse werden grob drei Ich-Zustände beschrieben: befindet sich jemand im so genannten Kindheits-Ich, wird er oder sie sich brav und unterwürfig andienen oder quasi pubertär rebellieren; es gibt aber nicht nur das angepasste (depressive) oder das schlimme („verhaltensauffällige“) Kindheits-Ich, sondern auch das kreative, neugierige, vertrauensvolle „freie“ Kind. „Von oben“ herab steht diesem das so genannte Eltern-Ich gegenüber, das entweder zwangsbeglückend (infantilisierend) oder verfolgend (strafend) agiert. Wahre Fürsorglichkeit gehört demgegenüber zum dritten Bewusstseinszustand, dem sachlich (korrekten) Erwachsenen-Ich, in dem auf Machtspiele („Power Plays“ im Gegensatz zu „Games“) verzichtet wird. (Aus diesem Grund spreche ich immer von gewaltverzichtender und nicht gewaltfreier Kommunikation!)
Wenn in transaktionsanalytischen Therapien das Ziel darin besteht, eigene unethische (machtbesessenes Eltern-Ich oder verführerisches Kindheits-Ich) Impulse zu erkennen und durch „erwachsene“ Verhandlungsangebote zu ersetzen, setzt dies das Wahrnehmen der Unterwerfungsstrategien voraus aber auch die Verfügbarkeit „erwachsener“, d. h. nicht destruktiver Reaktionsmöglichkeiten, oder auch, was besonders schwer ist, die Fähigkeit „Energie bei sich zu behalten“, nämlich überhaupt nicht zu reagieren außer mit einem freundlichen Gesichtsausdruck (und nicht – drohendes wie hilfloses – Schweigen wiederum als Machtstrategie einzusetzen).
7. ILI®: mein eigener „holistischer“ Ansatz
ILI® – das bedeutet: Intuitiv-linguistische Integrationsmethode und wurde mir erstmals 1996 publizistisch umrissen – basiert auf all den vorher angeführten Bausteinen, besonders auf der quadrinischen Ganzheit nach C. G. Jung, die man auch in der Methode Focusing des Rogers-Schülers (und Exilwieners) Eugene Gendlin (geb. Eugen Gendelin) erkennen kann: durch vor allem die Wertschätzung der so oft als „weibliche Intuition“ abgewerteten intuitiven Wahrnehmung – die durch die Entdeckung der Spiegelneuronen nunmehr als rehabilitiert zu bewerten ist – bemühe ich mich um folgende Wirksamkeit: durch die gezielte Auswahl der Wortgestalten bei den verbalen Interventionen sollen nicht nur die Alltagskommunikation einbezogen, sondern vor allem die bildhaft zugänglichen Tiefenschichten der Seele aber auch des physiologischen „Apparats“ angesprochen werden.
Auf dieser Ebene wirkt der „Zensor“, der darauf achtet, dass unerlaubte bzw. unerwünschte Seelenanteile nicht bewusst – sondern höchstens als Traum, Fehlleistung, Symptom oder in Witzen erlebbar – werden; diese Ebene soll mit Hilfe der hypnotherapeutischen Kommunikationsform so entspannt werden, dass diese Schatten-Anteile bewusst werden können. (Ich formuliere absichtlich nicht „aufsteigen“, weil wir sonst wieder im topischen Modell nach Freud zu denken verlockt werden, es soll aber kein hierarchisch-vertikaler (männlicher) Ganzwerdungsprozess in Gang gesetzt werden, sondern ein ganzheitlicher (weiblicher) auf gleichem Niveau, daher sternförmig horizontaler. Dadurch werden üblicherweise früher oder später die auf andere projizierten feindlichen Abwehrgefühle bewusst und können durch akzeptierend-empathisches Reagieren als zu sich „gehörig“ (nicht nur gehörend) integriert und sogar geduldig „geliebt“ werden; das ist der erste Schritt zur Feindesliebe und als zweiter zur Erkenntnis, dass man sich manchmal selbst eine ganz neue Neurosignatur aufbauen muss – ohne Vorbilder, ohne Lob durch eine Elternersatzfigur, ohne Bestätigung durch die kontrollierende Umwelt.
Der ganzheitlich halbwegs „im rechten Lot“ und gleichzeitig horizontal „offene“ Mensch, der Grenzen erst dann setzt, wenn andere merken sollen, wo sie nicht mehr weiter gehen sollen, kann dann im Sinne der postkonventionalen Ethik sich selbst als Ganzes zeigen: die anderen sollen sich auskennen – sie sollen aber nicht weggescheucht werden; daher hängt es von der verbalen oder nonverbalen Verkörperung ab, ob feindselige oder freundlich entgegen kommende Gedanken ausgesendet und wirksam werden. Das Therapeutenverhalten ist dabei Vorbild; es wird in der Lehrtherapie „eingespiegelt“, supervidiert, reflektiert und theoretisch entschlüsselt. Im Laufe der Zeit wird es üblicherweise zum Charakterzug. Es ist interessant zu beobachten, dass viele PsychotherapeutInnen zuerst Nikotin und Alkohol aufgeben, danach ihr Sexualverhalten ändern, zu meditieren beginnen, sich für Menschenrechte und Umweltschutz einsetzen und schließlich religiös werden.
Dazu noch eine wichtige Ergänzung – und gleichzeitig Hinweis, wie weshalb ILI® „linguistisch“ arbeitet: es liegt am langjährigen Fehlen einer allgemein verständlichen Fachsprache, dass Laien glauben, z. B. Gespräche, Traumanalysen oder kreative Techniken, „Aufstellungen“ oder Trancearbeit wären Methoden der Psychotherapie. Als Methode will immer das Gesamtgebäude einer psychotherapeutischen Schule verstanden werden – also inklusive Menschenbild, Neurosenlehre und spezifischer Definition von Gesundheit und Gesundheitszielen. Alles andere sind Techniken oder Experimente … aber die wesentliche „Technik“, die eigentlich keine Technik darstellt sondern eine Kunst, ist das emotional-kognitiv-intuitive „Mitschwingen“ mit den KlientInnen – das, was Freud mit der Formulierung „frei schwebende Aufmerksamkeit“ symbolisiert hat.
Ebenso „erleben“ die KlientInnen ihre Individuation nicht; diese Formulierung passt auf das Erleben des Eingipsens eines Beines. Individuation wird mit Zeitverzögerung im Nachhinein „festgestellt“: man erkennt, dass man sich wesentlich geändert hat, und man erkennt, dass man nun zu einer „anderen“ Gruppe dazupasst (deswegen zerbrechen auch so viele Partnerschaften nach Therapien); die alten Werte stimmen nicht mehr. Die neuen werden radikal: man ist anspruchsvoller geworden – zu sich selbst, aber auch gegenüber dem Anderen (nicht nur Menschen gemeint) – und vor allem wird ethisches Verhalten unabdingbar.
Oft werde ich gefragt, woran erkennt man gute Therapeuten? Dann antworte ich: setzen Sie sich zum ihm oder ihr in Widerspruch – dann werden Sie sofort merken, ob Sie fördernd behandelt werden oder Selbstwert schädigend.
Der österreichische Physiker Herbert Pietschmann hat einmal formuliert, die reife einer Gesellschaft erkenne man an ihrem Umgang mit dem Widerspruch.
Widersprüchliches auszuhalten ohne gleich Kreuz, Scheiterhaufen oder KZ einzusetzen, erfordert nicht nur Gesetz und Kontrolle, sondern vor allem Selbst-sichere Menschen, die ihre destruktiven Impulse kennen und loslassen können.
Zitierte, in der Vorlesung nicht erwähnte Literatur:
Joachim Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst. Hamburg 2005/ 06 (9. Auflage)
Eugene Gendlin, Focusing. Salzburg 1981/ 84 (4. Auflage)
Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung. Frankfurt /M. 1977/ 82 (4. Auflage)
Carl Rogers, Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart 1963 (4. Auflage)
Fußnoten
[1] Wenn man „Hirngespinst“ aber nicht böswillig zur Diskriminierung benutzt, sondern wohlwollend nur als volkstümlichen Ausdruck für „neuronale Verschaltungsmuster“ interpretiert, flechten wir alle unsere Hirngespinste und je mehr wir davon haben, zeigt die Hirnforschung, desto intelligenter sind wir.